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Bertolt Brecht
HERR PUNTILA UND SEIN KNECHT MATTI


Premiere: 14. Oktober 2006, Stadthalle (EPH)

Fotos link |

Besetzung:
Inszenierung -
Ausstattung -
Musikalische Einstudierung -
Dramaturgie -

Regieassistenz -
Soufflage -
Inspizienz -
Peter Radestock
Andreas Rank
Maria Tosenko
Annelene Scherbaum

Juliane Nowak
Bernd Kruse
Ito Grabosch
HERR PUNTILA UND SEIN KNECHT MATTI

Darsteller:
Puntila, Gutsbesitzer - Thomas Streibig | Eva Puntila, seine Tochter - Joanna Maria Praml | Matti, sein Chauffeur - Stefan Gille | Der Ober - Fred Graeve a.G. | Der Richter - David Gerlach | Der Attaché - Jochen Nötzelmann a.G. | Der Viehdoktor - David Gerlach | Die Schmuggleremma - Christine Reinhardt | Das Apothekerfräulein - Ulrike Knobloch | Das Kuhmädchen - Franziska Endres | Die Telefonistin - Uta Eisold | Ein dicker Mann - Peter Meyer | Ein Arbeiter - Christian Holdt | Der Rothaarige - Ullrich Wittemann | Der Kümmerliche - Stefan Piskorz | Der rote Surkkala - Jürgen Helmut Keuchel | Laina, die Köchin - Ulrike Knobloch | Fina, das Stubenmädchen - Franziska Endres | Der Advokat - Fred Graeve a.G. | Der Probst - Peter Meyer | Die Pröbstin - Christine Reinhardt

Lieder zum Puntila - Franziska Endres, Ulrike Knobloch, Stefan Piskorz, Christian Holdt, Ullrich Wittemann

Technische Leitung - Fred Bielefeldt | Beleuchtung - Susann Förster | Requisite - Margarita Belger | Maske - Grit Anders | Ton - Ronald Strauß | Garderobe - Elisabeth Müller | Schneiderei - Eva Nau, Gisela Schmidt, Claudia Siebenborn

Stück:

Wieso ist der Kapitalist nur im Suff zu ertragen?

Der finnische Gutsbesitzer Puntila führt zwei Leben: Im betrunkenen Zustand ist er leutselig und gutmütig und liebt die ganze Welt. Im nüchternen Zustand ist er bösartig und tückisch, ein brutaler Menschenschinder. Die Verlobungsfeier seiner Tochter Eva mit einem affektierten Attaché wird zum Skandal. Puntila – zunehmend betrunken – wirft ihn aus dem Haus, um Eva einem „Menschen , nämlich seinem Chauffeur Matti, zu geben. Der jedoch macht ein „Examen zur Bedingung, woran die Gutsherrentochter aber scheitert, weil sie sich im praktischen Leben nicht auskennt. Puntila beschließt nun, nie mehr zu trinken und sämtliche Alkoholvorräte zu vernichten – freilich, indem er die Flaschen austrinkt. Matti, der bislang gewieft durch alle launigen Tripps seines Chefs steuerte, stößt nun aber an seine Grenzen und verlässt ihn...


Pressestimmen:

Oberhessische Presse

Witz, Tempo und eine Provokation

Marburg. Peter Radestock bietet mit Bertolt Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ mitreißendes, witziges und spannendes Theater. Sein Inszenierung endet mit einer Provokation.

von Uwe Badouin

Radestocks Inszenierung beginnt mit einem grandiosen Besäufnis und endet mit einem provozierenden Schockeffekt: In Brechts Original kündigt Knecht Matti am Ende seinem Herrn Puntila die Gefolgschaft auf mit den Worten: „Denn du bist fast ein Mensch, wenn du besoffen“ (bist).

Bei Radestock dagegen wird der Kapitalist Puntila ermordet – vom Attentäter sieht der Zuschauer nur die Hand. Aber es war „der rote Surkkala“ (Jürgen Helmut Keuchel), der kurz zuvor von Puntila mit vier Kindern vor die Tür gesetzt wurde. Das Attentat platzt mitten in einen Monolog, in dem Puntila als Patriot die Schönheiten „seines“ Landes beschwört.

Dazwischen liegen fast zweieinhalb Stunden herausragendes Theater – politisch pointiert, voller Witz, Tempo, mit vielen Inszenierungsideen und tollen musikalischen Einlagen. Dieser „Puntila“ am Hessischen Landestheater ist keine Minute langweilig.

Nach einer Schocksekunde nach dem fragwürdigen Ende brandete bei der Premiere ein Schlussapplaus auf, wie man ihn in Marburg lange nicht mehr gehört hat. Stürmisch gefeiert wurden das spielfreudige Ensemble und insbesondere die Hauptdarsteller Joanna-Maria Praml (Puntilas Tochter Eva), Stefan Gille (Matti) und allen voran Thomas Streibig (Puntila).

Streibig zeigt ganz große Schauspielkunst. Es ist sein Abend, Puntila seine Rolle. Ihm gelingt mit Bravour und großem Können der schwierige Spagat, beide Seiten dieses Menschen zu zeigen.

Puntila ist eine Art Dr. Jeckyll und Mr. Hyde: Betrunken ein jovialer, charmanter, großzügiger Mensch, nüchtern ein kaltherziger Menschenschinder. Betrunken möchte er die Welt umarmen, betrunken erfüllen ihn seine „nüchternen“ Entscheidungen über Wohl und Wehe seiner Bediensteten mit Entsetzen. Nüchtern reut ihn seine „trunkene“ Gutherzigkeit, nüchtern schickt er alle Menschen zum Teufel, wenn er sie nicht mehr braucht. Nüchtern weiß er um seine Macht, die Macht seines Geldes.

Stefan Gille setzt diesem virilen Ungetüm den lakonischen, trockenen Witz eines Mannes entgegen, der sein Gegenüber genau durchschaut und unabhängig beiben will. Gille ist die ideale Ergänzung – großartig. Zwischen diesen beiden Polen wirbelt Joanna-Maria Praml mit enormer Energie und Spielfreude als verzogenes reiches Gör hin und her.

Große Szenen hat auch Jochen Nötzelmann als windelweicher Winkel-Diplomat, der alles auf die Ehe mit Puntilas Tochter setzt und selbst übelste Beleidigungen in der Hoffnung auf eine reiche Heirat hinnimmt. Dieser Politiker nimmt, was er kriegen kann.

Radestock hat Brechts „Puntila“ deutlich gekürzt, dem Stück dadurch aber keineswegs den Schwung genommen. Gleichzeitig hat der Regisseur das Volksstück von nahezu allen romantisierenden, folkloristischen Elementen entkleidet. Das Bühnenbild ist scharf konturiert und nüchtern weiß: Die Zuschauer sehen keinen idyllischen finnischen Gutsbesitzerhof, sie sehen die schnörkellose Villa eines reichen Mannes. Die große freie Spielfläche wird von Radestock virtuos genutzt.

Der „Birkendom“ hängt kopfüber von der Decke und ist nur noch eine blasse Erinnerung an Puntilas riesigen Wälder, die Basis seines Reichtums. Die vier Bräute, mit denen sich Puntila im Rausch verlobt hat, in ihren bunten Trachten mit Blumen im Haar sind der einzige Verweis auf bekannte Volksstück-Idyllen. Dies dient auch hier nur einem Zweck: den Unterschied zwischen Ober- und Unterschicht zu betonen.

Dennoch hat auch Radestocks „Puntila“ Volksstück-Elemente: Viele Szenen wie die karikierende Verlobungsfeier sind ungeheuer witzig, manche, wie die proletarische Prüfung von Puntilas Tochter Eva durch Knecht Matti geradezu grotesk komisch.

Radestock begleitet die Handlung mit einer Reihe von Brecht-Songs, die von Ulrike Knobloch, Franziska Endres, Christian Holdt, Ullrich Wittemann und Stefan Piskorz gekonnt interpretiert werden. So betont er seine Lesart: Wir leben in einer Klassengesellschaft, die Armen sind den Reichen ausgeliefert. Und mit seinem provozierenden Ende will der streitbare Regisseur das Publikum schockieren.

Schon zur Pause gab es viel Applaus für eine Inszenierung, die sich Theaterfreunde nicht entgehen lassen sollten.


Marburger Forum

Wenn er betrunken ist, dann krakelt der Gutsbesitzer Puntila, ist direkt, ist peinlich, aber vor allem eine Gutnatur. Hingegen im nüchternen Zustand erweist sich Puntila als nichts anderes, denn als kaltherziger Egoist, der bereit ist, alles und jedes seinen Zielen zu unterwerfen, der beleidigt und demütigt; kurz, eine „Ausgeburt des Kapitalismus“, die dem Betrunkenen selber nicht nur unangenehm ist, sondern derer er sich regelrecht schämt. Puntila säuft, weil er die Situation als solche und vor allem sich selber als unerträglich empfindet.

Thomas Streibig verkörperte den in sozialer Schizophrenie verfangenen Puntila so überzeugend, daß das Publikum ihn am Ende des Stückes mit minutenlangem Stakkatobeifall bedachte. Auch schon während des Stückes setzte bereits immer wieder Beifall ein.

Als Puntilas Nemesis – Matti der Knecht – erntete Stefan Gille nicht minder viel Applaus. Die ironische Distanz, in der er sich bewegte, stellte den perfekten Kontrapunkt zu Thomas Strebigs Auftritten dar.

Ebenso ging Johanna-Maria Praml in der Rolle der Gutsbesitzerstochter Eva auf, ja steigerte ihr Spiel im Verlauf des Stückes – war in dem einen Augenblick naiv – plärrendes Gör, dann Möchtegern – Femme fatale, dann wieder Geschöpf ihrer Klasse, erst angepaßt, dann wieder aufbegehrend gegen jedweden Zwang; ein Wesen, das aber letztendlich nur eine dumpfe Ahnung davon hat, wie essentiell ihre Entscheidungen nicht nur für ihr Leben, sondern für die Gesellschaft an sich sind, dabei aber unfähig ist zu erkennen, daß sie sich entscheiden muß, entweder ein Mensch mit Herz zu werden – und als Frau der Chauffeurs Matti auf allen pervertierenden Reichtum zu verzichten – oder als gesellschaftliches Monster zu leben – an der Seite eines einfältigen und entsprechend aufgeblähten Attachés, perfekt verkörpert durch Jochen Nötzelmann.

Die auf der Bühne Agierenden ergänzten sich überhaupt kunstfertig und schufen so ein fließendes Spiel, unterstützt und kommentiert durch musikalische Einlagen. Diese lieferten – trotz nur leidlicher Akustik – durchaus ihren Beitrag zum Gelingen der Premiere. Die 2,5 Stunden kritische Aufmerksamkeit, die das Stück jedenfalls von seinen Zuschauern forderte, vergingen anregend und durchaus amüsant.

Das Bühnenbild - in weiß gehalten - und die Kostümbildnerei, die zu Mattfarbigem, bestenfalls Schwarzem für die Akteure griff, fügte sich eindeutig der Brechtschen Forderung, den Zuschauer nicht durch opulente Ausstattungsdetails von der Aussage des Stückes abzulenken.

Warum zunächst jedoch ein Netz vor den Bühnenraum gelassen wurde, bleibt im wahrsten Sinne des Wortes etwas schleierhaft; man könnte lediglich mutmaßen, daß dies den Schleier der Maia darstellen sollte, den Brecht zu lüften beabsichtigt:

Arm und Reich können nicht zusammenkommen – und – der human handelnde Mensch muß dieser Welt als hoffnungslos Betrunkener erscheinen und wird daher unweigerlich scheitern.

Zwei „ernüchternde“ Feststellungen. Um sie herauszuformen, scheute sich der für die Inszenierung verantwortliche Peter Radestock auch nicht, vor allem das Ende des Stückes dramatisch umzugestalten.

Über das Ziel hinausgeschossen? Nein, hier wurden klar und unerbittlich die Konsequenzen einer modernen Interpretation gezogen. Die uneingeschränkte Aufmerksamkeit durch das Marburger Publikum war Herrn Puntila und seinem Knecht Matti somit gewiß – und keinesfalls nur wegen des veränderten Schlusses.

Tanja von Werner
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